Die Eröffnung der disputhek wurde von kurzen Vorträgen und Kommentaren begleitet, welche die Fragen „Warum kritische Theorie?“ und „Warum eine Bibliothek?“ diskutierten. Jene zur ersten Frage können an dieser Stelle nachgelesen werden.
Diskussionsbeitrag:
Die Frage „Warum Kritische Theorie“ scheint einerseits sehr einfach zu beantworten zu sein, mit einem schlichten: weil es nötig ist. Oder, um es ausführlicher zu machen, vielleicht auch eher das „weil es nötig ist“, in seiner Nachdrücklichkeit zu bestimmen, ist auf den kategorischen Imperativ von Marx und Adorno zu verweisen. Die da lauten: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – so Marx. Und Adorno formulierte: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“
Das klingt jetzt erst mal eingängig und nachvollziehbar, doch, so wie ich das sehe, sind wir weit davon entfernt, das Leben diesen Imperativen folgend, bewusst zu gestalten, wenn sie denn überhaupt noch sich Geltung im Bewusstsein verschaffen können. Denn dieser Schlichtheit, dieses leicht über die Lippen gehende, entspringend der Antwort „weil es nötig ist“, ist andererseits beigestellt, das es im emphatisch Sinne kaum noch einen Ort hat. Nicht zufällig klingt dabei etwas von Brecht an: Er ist das Einfache das schwer zu machen ist. Denn um das „Er“ muss es gehen, wenn von Kritischer Theorie gesprochen wird, wenigstens, wenn wir uns in diesen Räumlichkeiten aufhalten, setze ich das als Triebkraft des Denkens voraus. Das dies nicht mehr generell so vorauszusetzen ist, ist ein Elend dessen, was heute an den Universitäten unter dem Nenner kritische Theorie subsumiert wird. Mit dem von Soziologen beschworen Ende der großen Erzählung hat sich Gesellschaftstheorie eigentlich ja eh erübrigt.
Deshalb ist mein Anliegen heute zu versuchen, auszuloten und keinesfalls positiv zu benennen, was als Kritik noch eine Intervention sein kann, wenn das „er“ den Horizont des Denkens bildet.
Dafür möchte ich einen zentrale Punkt von Bruhn und der ISF aufnehmen, der sich auf die Frage von Theorie und davon abgrenzend Kritik bezieht. Es wird darauf verwiesen, dass das Bestreben zu theoretisieren, der kapitalen Synthesis entspringt – zwanghafte Einheit bilden – und versucht dem Irrationalen etwas rationales anzudichten. Dieser Gedanke soll im folgenden die Ausführungen leiten und den Rahmen abstecken, in dem ich über die Frage „Warum kritische Theorie“ nachdenken werden.
Alles Theoretisieren zielt auf Nachvollziehbarkeit durch Vernunft und dichtet der repressiven Synthese durch das Kapital eben diese Vernunft an. Damit wird, so scheint es mir, bereits immer auf eine Massenbewegung geschielt, die sich durch die dem Einzelnen eigene Vernunft und deshalb auch anzueignen Nachvollziehbarkeit, doch herausbilden müsste. Das Falsche des Ganzen lässt sich erklären und dadurch lassen sich die Menschen von der logischen Notwendigkeit zu handeln überzeugen, wenn wir nur an die Vernunft appellieren – so scheint es die Vorstellung zu sein. Im Theoretisieren, welches der Tendenz nach zur Theorie drängt, die sich zum System schließt, wiederholt sich die Schwächung des Einzelnen, auf den es jedoch ankommen würde, wenn eine Gesellschaft entsprechend der Bedürfnisse hervorgebracht werden soll. Das schwache Ich, Resultat der Verhältnisse, sollte gestärkt werden, anstatt es nochmal in seiner Bewusstlosigkeit zu bestätigen und ihm eine vermeintlich fertige Wahrheit hinzuwerfen, so wie es sich in der Person des Theoretikers vollzieht, der meint, das Kapitalverhältnis verstanden zu haben.
Es hat etwas von dem Pfarrer, der von der Kanzel den Massen zuruft, was denn ihr Leben ausmacht, dass es ein richtiges Leben gibt und sie sich doch mal bitte aufraffen sollen, um es ins Werk zu setzen – „es“ ist dann in gewisser Weise beliebig austauschbar, je nach dem an welche Richtung der Marx Exegese man nun gerade geraten ist.
Als sei der Kommunismus eine logische Notwendigkeit und kein Imperativ, der als Movens des Denkens gesetzt wird. Davon abzusehen, tendiert immer zum autoritären Gebaren, denn wenn mein Gegenüber die Wahrheit nicht einsehen will, muss ich sie ihm zur Not einhämmern – dann doch lieber einer Person ihre Dummheit aushämmern.
Im Gestus des Bescheidwissens, erinnernd an den Glauben, dass eine revolutionäre Avantgarde vorausschreiten muss, werden die Einzelnen von ihrem Handeln freigesprochen. Sie wissen schließlich nicht was sie tun, aber sie tun es. Dabei bleibt dann offen, wie der Theoretiker zu seinen revolutionären Einsichten gekommen ist, wenn doch eigentlich alle zur Bewusstlosigkeit verdammt sind. Vielleicht ist es geboten, die Psychoanalyse zu bemühen, denn psychoanalytisch wird Rationalisierung als Abwehrmechanismus benannt, entsprechend lässt sich vielleicht treffend sagen, dass der Seufzer der bedrängten Kreatur, explizit der selbsternannten Linken, nicht mehr Religion, sondern Theorie ist.
Damit ist der Wille zur Theorie einer der sich durch Nutzbarkeit, wenn man so will Verwertbarkeit, also in Zweck-Mittel Relationen, bestimmt, denn es soll damit Praxis gemacht werden. Dies ist vielleicht in doppelter Hinsicht zu verstehen. Denn die Verwertbarkeit für die Masse, kann einerseits in vermeintlicher Radikalität auf das revolutionäre Subjekt gerichtet sein oder andererseits und meist die einträglichere Variante, auf die Masse von Studierenden und im akademischen Betrieb befindlichen geistigen Arbeiter. Letztere lassen sich auch wesentlich leichter in den Bann schlagen, als die, welche – hoffnungslos verblendet – unter ersteres subsumiert werden. Denn wer den Unterdrückten und Verdammten dieser Erde den Keim zur Ausprägung eines emanzipatorischen Bewusstseins qua Klassenzugehörigkeit zusprechen will, muss fernab jeglicher Erfahrung sein. Denn dort, wo die Ressourcen zur Befriedigung der Bedürfnisse knapp sind, setzt sich die Konkurrenz meist am vehementesten durch, weil sie unmittelbar auf den Leib zielt.
Dabei ist wohl nicht der subjektive Eindruck relevant und nicht von Gewicht, in welchem Selbstverständnis die eignen Theorie zu Markte getragen wird. So ist dies ein Moment, welches zu verallgemeinern ist – die Subjekt sollten nicht psychologisiert werden. Denn der subjektive Eindruck ist meist doch nicht mehr als der objektive Abdruck der Verhältnisse im Subjekt – Charaktermaske der ökonomischen Verhältnisse. Einem einzelnen Subjekt keine ausgemachte Besonderheit zu zusprechen, bewahrt des Weiteren tendenziell davor, es zum Märtyrer zu stilisieren, der sich für das Eine aufgibt, welches in der jeweiligen Erzählung dann das Gute, das Wahre ist. Nur allzu gerne wird sich darin verloren, dass es doch die herausragende Persönlichkeit, den Superhelden gibt, der alles wieder auf die richtige Bahn lenkt.
Das sinnentleerte Dahinsiechen, welches Alltäglichkeit meint, treibt zur Verdrängung in der Tat. Es wird sich selbst, wie man so sagt „ein Reim auf die Dinge gemacht“, um subjektiv Sinn zu stiften. Ausdruck dessen ist das Fortdauern von Esoterik, die Beliebtheit von Lebensratgebern aller couleur und die ermüdende Dummheit von Leuten, die einem erklären, dass man sich nur genug anstrengen muss, um seines Glückes Schmied zu sein, so als hätten sie davon einen Begriff. Davon ist das Streben nach Theorie, die die Welt erklärt, nicht fern und der Form nach fällt sie der Wissenschaftlichkeit anheim und dient damit, ob entlohnt oder nicht, dem akademischen Betrieb. Damit wird Kritik getilgt, wie laut die eigenen Radikalität auch herausposaunt wird.
Dabei will ich mit diesen Ausführungen gar nicht dagegen polemisieren, dass Zuflucht im akademischen Betrieb genommen wird, um die Reproduktion des eigenen Lebens zu sichern. Ich würde sagen, dass es doch auf jeden Fall eine der angenehmeren Weisen ist, dem Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft nachzukommen.
Bei den Ausführungen gegen den Drang zu theoretisieren, ja vielleicht der Wahrheit doch endlich, wenigstens im Denken, habhaft zu werden, soll damit nicht ausgedrückt sein, dass die Lektüre beiseite zu legen sei, rauszugehen ist, den Leuten erklärt werden muss, wie scheiße ihr Leben doch ist, wenn sie ehrlich zu sich sind und das dann schon die Vorbereitung für den nicht ableitbaren Sprung ist, der die Befreiung sein kann, die ein menschenwürdiger Zustand bedürfen würde.
Gleichzeitig ist es der eigenen Erfahrung nach aber wohl doch so, dass in so mancher Debatte mehr dabei herumkommen würde, wenn sich die in der Debatte Befindlichen erst mal darauf einigen, dass ihr Leben scheiße ist und nicht eine Lebensführung gegen die andere aufzuwerten sei, als „bessere“, gar als richtig. Denn ich denke, dass damit vielleicht das Moment der Anerkennung der negativen Gleichheit in der Verletzlichkeit des Leibs, die uns alle bestimmt, möglich wird und davon ausgehend die Frage diskutiert werden kann, warum die Zwänge, die uns alle zurichten und Leid beständig reproduzieren, noch immer sind, wenn wir doch leiblich spüren, dass es so nicht menschlich sein kann – auch wenn in der Subjektform zur Verdrängung des Leibs tendiert wird.
Das klingt nun als sei alles sehr durchsichtig. Zu leugnen ist nicht, dass eine riesiges Segment der Kulturindustrie und daran anschließende Produktion, sich der Verdrängung des Leids und damit, des Leibs, widmet. Das gesunde, glückliche und erfüllte Leben wird gepredigt, erreichbar durch Kontrolle, Disziplin und Leistung.
So gemütlich und von Selbstliebe gesättigt dieses kulturindustrielle Spektakel zum Teil auch daherkommt, zielt es auf die Zurichtung für die Konkurrenz ab. Es gilt zu funktionieren.
Man könnte vielleicht sagen, dass in einem Modus von „irgendetwas ist immer“ gelebt wird und sei es, dass doch nun endlich mal die Freizeit ausgeschöpft wird, nachdem man so viel geleistet hat. Dann will man sich doch auch mal was gönnen, nachdem man sich so aufgeopfert hat. So wird das eigene zur Ware-Werden durch Waren vergessen gemacht.
Nun wird einer kleiner Sprung gewagt und der erste Teil kann als sozusagen abgeschlossen gelten. Bevor ich nun dazu übergehe, darzulegen, wo sich vielleicht noch, wenn man so will, Hebelpunkte finden lassen, um den genannten kategorischen Imperative gesellschaftliche Wirklichkeit zukommen zu lassen, möchte ich einen kurzen Exkurs einschieben, der vielleicht nochmal die Absurdität des Ganzen zum Vorschein kommen lässt.
Horkheimer äußerte einst, dass Hunger kein Grund zur Produktion ist und so kann Hunger in mitten einer ungeheuren Warensammlung fortdauern. Die Absurdität, welche die kapitalistische Realität ist, dass durch den „Ausschluß aller durch alle“, wie es aus der Form der Ware resultiert, im Überfluss an Gebrauchswerten, gleichzeitig materielles Elend bestand hat, lässt sich, wie es scheint, nicht ändern. Doch kommt es immer wieder zu dem Versuch, sich nicht dem Zwang des Privateigentums zu unterwerfen. Genießen ohne leisten zu müssen, teilen ohne auf seinen eigenen Anteil achten zu müssen, das klingt pathetisch.
Was hält einen denn davon ab beispielsweise zu Rewe zu gehen und sich diese ganzen schönen Waren, die doch für die Konsumtion produziert wurden, einfach einzustecken? Hierauf lässt sich wieder eine schlichte Antwort geben: das Gesetz. Doch, wie auch bei der Eingangsfrage, die diesem Input anleitet, ist es gleichzeitig doch nicht ganz so leicht, wie es scheint, denn das Gesetz ist nicht einfach da, ist nicht greifbar, doch hat es reale Macht über uns. Diese reale Macht ist nur allzu leicht spürbar, als harte Hand des Gesetzes, wie es der bürgerliche Volksmund nur zu gerne bezeichnet und einfordert. Diese harte Hand gewinnt physische Gestalt, in dem Moment, in dem die Warenvielfalt wieder mal zu verlockend war, doch sich über die Nötigung das entsprechende Äquivalent aufzubringen, hinweggesetzt wird und dabei ein rechtschaffener Bürger die Handlung, im Rechtsjargon wohl als „Tat“ bezeichnet, beobachtet und sich voll Empörung an den Souverän wendet. Nun darf sich in der Gestalt der Polizei, die der leibhaftige Ausdruck der monopolisierten Gewalt ist, die Souveränität meint, auseinandergesetzt werden. Es zeigt sich was hinter dem zwanglosen Zwang des Vertrags steht – der Souverän. So wird gestraft, um den Konformismus mit der vorausgesetzten Ordnung abzusichern, denn es ist so, wie ist. Das „Warum“ scheint sich zu erübrigen. Es ist halt so.
Herrschaft bis in alle Ewigkeit, denkt es sich neoliberal oszillierend zwischen Allmacht und Ohnmacht.
Doch verweist die Möglichkeit sich gegen das Handeln in den der kapitalistischen Vergesellschaftung entspringenden Fetischformen zu entscheiden, auf die Freiheit des Einzelnen. Damit sei nun nicht ausgedrückt, dass Ladendiebstahl irgendetwas subversives gar revolutionäres anzudichten und es auch nicht zu verallgemeinern ist, da die Angst vor der Strafe, die in letzter Instanz auf den Leib zielt, an die Ordnung bindet.
Aus den ökonomischen Formen der Reproduktion gibt es immanent keinen Ausweg, wir müssen in diesen denken und handeln, damit wir unsere Selbsterhaltung mit einer gewissen Sicherheit vollziehen können. Es erübrigt sich die Frage, ob es richtig oder falsch ist, dass ich immer zum Tausch gezwungen bin, um leben zu dürfen. Die einzige Frage die gilt, ist die nach dem Preis.
Deshalb gilt es, auf eine Kritik des Antisemitismus und Rassismus zu beharren, denn diese Denkformen, die sich gegen das überwertige oder das unwerte Leben richten, entspringen der gesellschaftlichen Konstellation die unter Druck die Subjekte formt.
So sehr der Souverän die Verträge absichert, die das Privateigentum garantieren, kann sich dem antisemitischen und dem rassistischen Denken verwehrt werden. Dazu kann man nicht gezwungen werden und es ist die eigene Verantwortung, sich dagegen zu entscheiden. Niemand ist dazu gezwungen, Antisemit oder Rassist zu sein. Doch drängt sich das Denken dem fetischistischen Bewusstsein auf. Wer dieses als strukturell festes bestimmt, kann keinen Einspruch mehr erheben. Kritik wäre ohne Ansatzpunkt.
Es ist dem folgend wohl so, wie es bereits Marx und auch Adorno aufgezeigt haben, dass das Denken in der Entdeckung des Menschen, hinter den mythischen Gestalten, nichts gewonnen hat, außer Selbstbeweihräucherung.
Marx schreib dazu: „Die Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit ist daher ein unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Warenwelt verstecktes Geheimnis. Seine Entdeckung hebt den Schein der bloß zufälligen Bestimmung der Wertgröße der Arbeitsprodukte auf, aber keineswegs ihre sachliche Form.“
Und Adorno: „Leicht bildet Denken tröstlich sich ein, an der Auflösung der Verdinglichung, des Warencharakters, den Stein der Weisen zu besitzen. Aber Verdinglichung ist die Reflexionsform der falschen Objektivität; die Theorie um sie zu zentrieren, macht dem herrschenden Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten die kritische Theorie idealistisch akzeptabel.“
Es ist wie beim Rätsel der Sphinx, der Mensch hat sich selbst entdeckt, doch verbleibt trotzdem in seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – ist nicht Herr im eigenen Haus, wie der Protagonist der genannten mythischen Szene: Ödipus. Das Schicksal holt ihn ein, denn die Verhältnisse bleiben unverändert.
Es verändert nichts, wenn die Formen in denen wir unser Leben reproduzieren logisch bestimmt werden und als menschengemacht, denn es lässt sich nicht logisch begründen, warum wir in diesen Formen unser Leben reproduzieren. Denn der Nachweis, dass der Mensch es ist, der die Verhältnisse schafft, schmeichelt dem aufgeklärten Bürger, der sich seiner Verwertbarkeit sicher fühlt.
Daraus leitet sich die Nötigung ab, materialistisch zu denken. Somit scheint Kritik, die ihren Gegenstand auch treffen will, sich auf die Bedingung der Möglichkeit richten zu müssen, das trotz logischer Unmöglichkeit, das Ganze als Unwahresreal trotzdem möglich ist.
Früher hätte man vielleicht gedacht, dass Gott das Ganze zusammenhält, aber es ist der Leviathan – die souveräne Gewalt. Der Souverän als Körper der uns einschließt. Deshalb ist eine Kritik des Kapitals nicht ohne eine Kritik des Staates zu machen, denn dies sind gleichursprünglich zwei Seiten der selben Medaille.
Damit ist das Anliegen von Kritik nicht die Aufhebung des Bestehenden, als sei nur ein Widerspruch zu überwinden und der Kommunismus eigentlich schon im Kapitalismus angelegt. Es geht um die Abschaffung von Staat und Kapital.
Kritik richtet sich deshalb nicht an ein imaginiertes revolutionäres Subjekt als Kollektiv, denn das revolutionäre Subjekt kann immer nur ein jeweils Einzelnes sein, alles andere tendiert zur zwanghaften Gemeinschaft.
Diese ist der Fluchtpunkt des Subjekts in der Krise. Wenn die eigene Überflüssigkeit für die Verwertung sich zunehmend aufdrängt und im Bewusstsein der Subjekte festsetzt, sich also als in der Krise befindlich gedacht wird, dann tendiert das bürgerliche Subjekt zur Flucht nach vorne, zur Nation – eine Identifikation mit dem Angreifer, in dessen Namen dann gehandelt wird.
Dazu gilt es anzumerken, dass die Krise kein Naturgesetz ist. Das beängstigende auf und ab der Aktienkurse, ist kein Abbild eines von den handelnden Subjekten losgelösten Prozesses – es ist genau genommen das Abbild der handelnden Subjekte, die die Krise also selbst, durch ihr bewusstloses handeln, hervorbringen. Denn nur wenn als in der Krise befindlich gehandelt wird, dann ist die Krise auch.
Um Bruhns Verweis auf Hitler zu zu zitieren, der auf die deutsche Krisenlösung verweist: “Die erste Ursache des Gleichbleibens unserer Währung ist das KZ”, so der führende Volkswirt Adolf Hitler im Januar 1943 bei Tische in der Wolfsschanze, als die Herrschaften sich fragten, wie es eigentlich sein konnte, daß trotz des enormen Kaufkraftüberhangs, trotz des enormen Staatsdefizits noch immer keine Inflation losbrach.“
In der Krise kann das Subjekt durch die Flucht nach vorne in den Volkskörper, in die Wärme der Horde, in der man untergeht, den eigenen Körper vergisst und als Volkskörper zur Vernichtung tendiert und sei es am Ende die eigene, die Angst verdrängen. Die Bereitschaft zum Tod, als „doppelte Möglichkeit“, wie Carl Schmitt, allerdings positiv, dies beschrieb, ist die Voraussetzung für die Identifikation mit dem Volk. Die Gemeinschaft wird durch das Opfer zusammengehalten.
Deshalb geht es nicht um Theorie und Praxis, sondern um Krise und Kritik.
Die Frage nach Warum Kritischer Theorie würde ich resümierend also damit beantworten, weil dadurch Leid beredt werden kann.
Erster Kommentar:
Zwei Momente der eben dargestellten Collage (erster Beitrag) möchte ich erneut aufgreifen. Zunächst werde ich etwas zur Trennung von Individuum und Gesellschaft anmerken. Schließlich, das wird ein kleiner Sprung, soll dies ergänzt werden um den falschen und richtigen Gegensatz von Kritik und Praxis, Fragen zu Aktivismus und Bewegung.
Mein Versuch einer fragmentarischen Kritik gilt der Hypostase des Einzelnen als bedürfnisbewussten Menschen, der zugleich die Sozialatomisierung und die gesellschaftliche Konstitution des individuellen Subjekts potenziell zu negieren scheint. Das Urteil aber ist längst gesprochen: der Einzelne wird an diesem Vorhaben zu Grunde gehen. So wenig ein einzelnes Subjekt bestimmt werden kann, welches nicht gesellschaftlich präformiert ist, kann eines sich zeigen, welches wahre Bedürfnisse hätte. Diese Vorstellung von Authentizität ist romantisch. Sie entspringt der bewusstlosen Denkform selbst und widerspricht der Einsicht, dass die Subjektform nicht etwa die Verwirklichung individueller Autonomie und Selbstbestimmtheit sei, sondern viel mehr gesellschaftliche Zurichtung. So erkannte Bruhn, dass das Subjekt ein rassistisches und antisemitisches zugleich ist – es galt ihm als die gesellschaftliche Synthesis der Antinomie von Bourgeois und Citoyen am Individuum.
Die falsche Trennung von Individuum und Gesellschaft basiert auf der Form der Vergesellschaftung selbst. Denn paradoxerweise wird sie durch private Arbeit und ebensolche Interessen vollzogen und stellt sich als Konkurrenzverhältnis dar. Stapelfeldt benennt dies für die neoliberale Gesellschaft adäquat als Integration durch Desintegration. Als Sozialatom, wie ebenjener es nennt, ist das längst liquidierte Individuum umso mehr „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Marx), bewusst ist ihm, ist uns das nicht. Die Einzelnen stoßen sich von anderen ab und vergesellschaften sich, ohne es zu wollen, während die Gesellschaft als Naturmacht und Grenze der teleologischen Handlungen des Alltags erscheint. So ist die falsche Dichotomie durchaus wahr: Gesellschaft reproduziert sich gerade dadurch, dass die Einzelnen gegen Andere agieren.
Individuum ist aber nicht ohne Gesellschaft, Gesellschaft ebenso wenig ohne Individuum zu denken. Das eine wirkt durch das andere hindurch. Individuum und Individualität entspringen gleichsam erst dem Gesellschaftlichen. Vollends der Utopie vom Individuum entledigt, ist die neoliberale Individualisierung schließlich Ausweis totaler Vergesellschaftung, der bewusstlosen Reproduktion des Ganzen im Einzelnen. Und nicht etwa, weil sich im Einzelnen dagegen etwas regte, schrieb Adorno die Aphorismen der Minima Moralia aus der Erfahrung beschädigten Lebens. Die leidhafte Erfahrung des Individuums galt ihm viel mehr als Ausweis der objektiven Verhältnisse selbst. Sie ist Einspruch gegen falsche Unmittelbarkeit und die Anerkennung des eigenen Zufalls. Während „seines Zerfalls“, schreibt er, „trägt die Erfahrung des Individuums“ schließlich zur „Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte.“ Erfahrung im emphatischen Sinne, heute kaum mehr möglich, reflektiert auf Gesellschaft. Sie enthält in ihrer Leibhaftigkeit ein notwendig irrationales Momentum, welches nicht zu tilgen ist. Sie sträubt sich durch ihre unreglementierte Reflexion auf Theorie sowohl gegen falsche Unmittelbarkeit als auch gegen das systematische Denken. Es gilt: Dem Zwang, welcher als Selbstbewusstsein – gar noch: Selbstverwirklichung, also zeitgemäße Form falscher Autonomie – erscheint, wird auch der kritische Geist nicht entrinnen. Das Individuum ist Ausweis des Allgemeinen, widerstrebt damit zugleich der Kritik und ist doch notwendig deren Ausgangspunkt. Insofern von der individuellen Erfahrung von Leid und Wunsch noch etwas über die Zurichtung hinausweist, ist dies nur als Kritik zu formulieren. Das Ziel kann daher unmöglich darin bestehen, erneut einen starken, unbeweglichen Triebapparat („Ich-Stärke“) in den Einzelnen zu konstituieren. Vielmehr ist die Intention der Kritik, die Zumutungen der dafür nötigen Herrschaft über die eigene Natur abzuschaffen. Der zeitgenössisch vermeintlich „flexible“ und der Triebstruktur nach „bewegliche“ Sozialcharakter wird gemeinhin durch Erscheinungen wie Authentizität, Kreativität, Selbst-Verwirklichung und Karriereorientierung zugleich beschrieben. Die Absurdität, dass wir diese Elemente der Zurichtung als individuelle Wahl verkennen, gilt es zu skandalisieren.
Theorie der Gesellschaft ist also insofern vonnöten, als dass diese sich gegen ihre falsche Natur richtet, die Voraussetzungen des eigenen Handelns aufzuklären trachtet und deren Irrationalität überhaupt erst benennt. Sie erhebt Einspruch gegen die Rationalisierung eben jener Einrichtung. Dies gilt ebenso für das, was heute unter dem Begriff der Praxis firmiert. Kritisierte Adorno noch, dass diese zur Theorie nur ein instrumentelles Verhältnis hege, ähnlich wie eben dargestellt, muss man heute konstatieren: Sie erscheint vollends begriffslos, bewusstlos – die Reflexion auf die Gesellschaft ist ihr fremd. Sie erscheint als antisemitisches Schmierentheater mit dem Ziel den ungleichzeitigen Staat jüdischer Emanzipation, Israel, abzuschaffen und inszeniert sich nostalgisch als sozialistische Jugendgruppe. Sie erscheint auch als regionale Antifa-Gruppe und Aktivismus gegen den Schrecken der völkisch-konformistischen Revolte. Während erste blindlings den Erlösungsantisemitismus in deutscher Tradition propagandieren und sich dabei – ebenso eine deutsche Tradition – als Retter der Welt und Freund:innen der Verdammten gerieren, erheben letztere wohl zurecht Hand und Stimme gegen die Barbarei des 21. Jahrhunderts. Immerhin: Die Verteidigung gegen die Gewalt des deutschen Volkswahns ist notwendig; ein Neonazi mit gebrochenen Beinen allemal ungefährlicher als einer mit intakten Gliedmaßen. So weit wird man wohl kaum widersprechen können.
Aber: Der Aktivismus gegen Rechts verlangt nicht nach Theorie und Aufklärung der Verhältnisse, er verlangt nach Taten und ist insofern wohl dem Militär näher als dem Kommunismus. Es handelt sich hierbei um ein modernes Novum: eine linke „Bewegung“, welche mit Theorie, der Kritik der Gesellschaft nichts am Hut haben mag? Die nicht wenigstens versucht, sich die kritische Theorie als Instrument anzueignen? Noch vor 50 Jahren kaum vorstellbar. Heute aber wird die bürgerliche Trennung von Theorie und Praxis nicht mehr nur zugunsten der Praxis affirmiert. Sie gilt als gesetzt, als unauflösliche Trennung, das Machen gehe dem Denken voraus. Antifa sei schließlich Handarbeit. Dieser uns allen bekannte Spruch ist ehrlicher als gewollt: er zeigt die Bewusstlosigkeit einer Bewegung, welche ihre Rotfront-Vergangenheit mit sich herumschleppt und sich nebenher zum kollektiven Sozialpädagogen des Staates mauserte. Antifa ist Pseudo-Aktivität. Die Reflexion auf die Trennung von Geist und Körper, von Subjekt und Objekt, welche doch konstitutiv für Praxis wäre, misslingt dem Kollektiv unmissverständlich. Es fügt sich so den Imperativen des Objektes, der Gesellschaft: Verwertbarkeit, Effizienz, Pragmatismus vor jedem Gedanken – Kampf dem Faschismus als Dienst am besseren Deutschland. Immerhin wird das Missverständnis der Autonomie derartiger Kollektive derweil nur noch von offiziellen staatlichen Institutionen bemüht. Wobei: Auch Antifa ist heute, fernab jeder emanzipatorischen Radikalität, mithin staatlich – seit den 2000ern fließen Fördergelder, für unsere Demokratie. Deren Verteidigung legitimiert dann auch die Zusammenarbeit mit Chef-Ideologen wie Michael Kretschmer. Alle zusammen für den deutschen Staat und gegen den Faschismus. Staat und Kapital sind dieser Linken keine Kritik mehr Wert. Einzig deren Ausprägungen, ob rassistische Polizeigewalt oder der Abbau des Sozialstaates, ist ihnen ein Dorn im Auge. Anliegen ist nicht das Ende der Herrschaft, sondern deren Neuausrichtung. Das Subjekt dieser Gedanken setzt die Trennung vom Objekt der eigenen Erkenntnis bewusstlos voraus. Ist die völkische Bewegung der Gesellschaft ein Störfaktor, so ist sie diesen Verhältnissen wohl kaum entsprungen. Denn dann würde sie auch uns betreffen. Das Eintreten gegen diese konformistische Revolte verlangte insofern auch nach Selbstreflexion, nach kritischer Theorie und der zusehends verschütt gegangenen Möglichkeit von Erfahrung, welche diese überhaupt noch ermöglichte, wie die Spontanität die radikale Praxis.
Doch heute ist alles ein Spiel. Der VVN-BdA wirbt für einen Job mit dem Slogan „Komm ins Team Antifa“, das Gerede von der richtigen Seite der Geschichte ist uns allen bekannt. Und so gerät der Aktivismus, wenn er nicht Arbeit ist, zum Freizeitbetrieb, zum Hobby. Neben dem was wirklich wichtig sei, Geld verdienen und eine Karriere (die vielleicht sogar einmal irgendwie mit Kritik der Gesellschaft hätte assoziiert werden können) zu betreiben, wird – wenn denn dafür noch „Kappas“ sind – Selbstorganisierung betrieben. Frei nach Agnolis Hegel-Rezeption kann hier „pissendes Denken“ beobachtet werden: Man kann über vieles reden, noch mehr tun und nie etwas ändern. Die Sinnlosigkeit des eigenen Handelns wird so vorausgesetzt, ist nichts als Ablenkung und Selbstverwirklichung fernab des Jobs. Als Freizeitaktivität degradiert man die eigene Praxis, die sowieso schon keine richtige war, zur vollen Überflüssigkeit. Die Konsequenz: Einverstandensein mit den Verhältnissen. Nicht zufällig sind die Freizeitaktivist:innen und Hobbytheoretiker:innen früher oder später in sozialpädagogischen Projekten und Gewerkschaftsjobs zufrieden mit ihrem Dienst an der Gesellschaft oder machen es sich im akademischen Betrieb gemütlich, finden sich im Konservatismus wieder. Das sind wohl die Reste einer Bewegung, welche sich irgendwann einmal als kommunistisch wähnte. Die Kritik an diesem Verhängnis – in dem Sinne ist sie solidarisch, ohne dem Tatendran nachzugeben – versucht die Intention auf „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ zu erhalten. Sie ist deshalb unmöglich eins mit der jener Praxis, aber ihr zutiefst verbunden.
Zweiter Kommentar:
Als ich angefangen habe, über die Fragestellung für diesen Beitrag und die Kommentare nachzudenken, kam mir alles Mögliche in den Sinn, worüber ich sprechen wollen würde. Die zugänglichste Antwort für viele von euch wäre vielleicht gewesen, zu beschreiben, was kritische Theorie von traditioneller unterscheidet. Aber das wollte ich nicht: die Beiträge sollten doch schließlich Ausdruck dessen sein, was wir hier eigentlich machen und zukünftig machen wollen. In kritische Theorie einzuführen, sie anhand von Charakteristika, als wären diese Zutaten eines Kochrezepts, verständlich oder gar salonfähig zu machen – wie es in einem unserer ersten Texte tatsächlich noch hieß –, oder sie für die Verwertung im akademischen Betrieb zuzurichten, man könnte auch sagen sie zu soziologisieren, gehört nicht dazu. Für mich. Und da sind wir vermutlich schon am neuralgischen Punkt dieses Kommentars: einige Gruppenmitglieder sehen das sicher anders. „Was wir hier eigentlich machen und zukünftig machen wollen“ lässt sich nicht positiv, abschließend oder absolut bestimmen.
Die Frage, auf die der Beitrag und die Kommentare so gern eine Antwort geben wollen, lässt sich so nicht beantworten. Stattdessen ist die Kritik angewiesen auf einen Gegenstand. Wir haben das im ersten Beitrag gehört: Der Genosse, der im Übrigen von vornherein unbehaglich mit der Frage war, hat deshalb versucht, sich an „der Theorie“ abzuarbeiten. Für den folgenden Kommentar und mich war es leichter: Wir hatten wenigstens seinen Beitrag zum Gegenstand der Kritik. Aber auch der erste Kommentierende hat sich einen zusätzlichen Gegenstand gesucht, an dem er sich abarbeiten konnte. Das war auch mein erster Impuls. Ich hatte so viele Assoziationen zur Frage, über die ich gern gesprochen hätte: Die Geschichte, die Erkenntnis, die Rationalität des männlichen Menschen, das religiöse Moment der Hoffnung auf den kommenden Kommunismus und der Glaube an das Subjekt oder den Moment, die ihn bringen könnten. Schließlich hängen alle diese Aspekte mit der Frage nach der kritischen Theorie zusammen. Aber auch das wäre der Tendenz nach positive Antwort: Hätte ich dem ersten Beitrag hinzugefügt, was fehlt, so hätte ich die Kritik bestimmt, statt den Gegenstand kritisiert.
Zum falschen Inhalt gesellt sich die falsche Form: In fünf bis zwanzig Minuten ist kein Gedanke ausführbar, keine Kritik formulierbar. Wir haben der Polemik des kritischen Kritikers, dessen Maske der Vortragende sich im Beitrag aufsetzte, zugehört, aber ob wir verstanden haben, was die „Synthese durch das Kapital“ oder das „falsche Ganze“ sein soll, bleibt dahingestellt. Wie nun „die Theorie“ Ausdruck solcher Synthese ist, konnte er nicht erklären – er meinte zwar, es sei nicht erklärbar, aber auch die Form hätte ein Erklären nicht zugelassen. Dass ich meine Kritik an seinem Beitrag vorbereiten konnte, er sich der Kritik jetzt notgedrungen aussetzen muss, gehört wohl ebenso zur falschen Form. Zwar haben wir uns bewusst für dieses Format entschieden, einerseits aufgrund der verschiedenen Einzelnen innerhalb der Gruppe, die dadurch etwas sagen würden, andererseits wegen des Anliegens, in diesen Räumen zu disputieren. Fehlgeschlagen ist dabei einerseits, dass wir nicht ernstgenommen haben, wie real die Angst, verschieden zu sein, ist, sodass sich nur Personen gemeldet haben, die relativ ähnliche Perspektiven auf diesen Raum haben, und andererseits, dass der begrenzende Rahmen dazu zu nötigen scheint, so dicht zu sprechen und so viel vorauszusetzen, dass kaum jemand mehr versteht, worum es geht, nur um „alles unterzubringen“, „alles richtig zu machen“. Dies scheint mir Ausdruck genau des Systemdenkens zu sein, das der kritische Kritiker in seinem Beitrag kritisierte. So erinnert diese Aneinanderreihung von Beiträgen und Kommentaren an ein Panel, in dem verschiedene Wissenschaftler:innen zum selben Thema ihre Inputs abliefern, um danach aneinander vorbeizureden.
Auch ich leide – wie die Genossen – unter der Unfähigkeit, den Rest, das Nichtidentische, oder Irrationale – mit wem auch immer man es sagen möchte – als solche stehen zu lassen und das Unabgeschlossene auszuhalten, auch wenn ich mich dem gern entziehen würde. Deshalb muss ich – auf die Gefahr der Wortklauberei hin – dem kritischen Kritiker in seiner Bestimmung der Theorie trotzdem widersprechen: Nicht die Kritik ist gegenüber der Theorie abzugrenzen, sondern die kritische Theorie von der traditionellen, wie es in Horkheimers bekanntem Aufsatz heißt, und von der, die sich nur kritisch nennt. Damit will ich keinesfalls sagen, dass der Text von 1937 Ausdruck ewiger Wahrheit sei – insbesondere nach Auschwitz ließe sich das nicht sagen, sofern sich die Verhältnisse heute doch anders darstellen, wie wir im vorigen Kommentar gehört haben. Aber dass Kritik auf Theorie angewiesen bleibt. Die kritische Theorie der Gesellschaft und des Individuums allein ermöglicht die Erkenntnis, dass weder die Verhältnisse noch die Subjektform des Menschen natürlich oder gar vernünftig sind. Der Genese der Gegenwart muss nachgespürt werden, um sie zu entnaturalisieren, um die Möglichkeit des Aufhörens zu retten, die gegenwärtig verloren scheint. Das bedeutet nicht, dass die kritische Theorie überzeitlich wahr ist oder empirisch oder logisch widerspruchsfrei beweisbar. Es bedeutet lediglich, dass sie versuchen muss, zu verstehen, und gleichzeitig, das Unverständliche als solches stehen zu lassen. Insofern ist sie angewiesen auf die Theorie. Nicht das Beharren auf die Nachvollziehbarkeit des falschen Ganzen, welches dieses Ganze nicht rationalisiert, sondern das Nicht-Identische als Anderes stehen lassen kann, impliziert den kausalen Schluss, den der kritische Kritiker zog – dass sich dadurch die Menschen von der Notwendigkeit, zu handeln, überzeugen ließen – sondern die Gleichsetzung von Theorie und Wahrheit, der der Genosse anheimgefallen ist. Als kritische Theorie bleibt Theorie stattdessen in Bewegung, spekulativ und fragmentarisch. Die Kritik ist die konkrete – nicht die abstrakte Negation der Theorie. Schließlich erklärt auch der kritische Kritiker uns, wie dumm wir sind, wie scheiße unser Leben eigentlich ist, dass wir es dank der Kulturindustrie nur verdrängen würden.
Meine Kritik soll aber nicht bei der oberflächlichen Trennung von Theorie und Kritik verharren. Stattdessen soll der Borniertheit, die in der Polemik des kritischen Kritikers aufscheint, widersprochen werden. Nicht, weil ich meine, dass wir in diesen Räumen einen umfassenden Bildungsanspruch verfolgen sollten – die immer wiederkehrende Rede von der sog. Niedrigschwelligkeit, die hinfällig wird, wenn erkannt wird, dass die Verhältnisse eben nicht einfach zu verstehen sind und ihre Kritik es entsprechend auch nicht sein kann – da sie einerseits als Kritik sich dem Gegenstand zumindest insofern gleich machen muss, dass sie ihn fassen kann, und andererseits ihrer eigenen Verwertung widerstehen muss. Auch nicht, weil ich versöhnlich bleiben möchte, Niemandem vor den Kopf stoßen. Sondern weil ich meine, dass die Polemik genauso Ausdruck des Begehrens nach Subjekt-Sein ist wie das Theoretisieren zum geschlossenen System, Ausdruck des Sich-eingerichtet-habens in der Kritik-Gemeinschaft: Zu Polemisieren heißt, sich zu distanzieren. Sei es, sich sicher zu sein über die „Dummheit der Leute“, was mir gleichbedeutend zu sein scheint mit dem Gefundenhaben der richtigen Theorie – nämlich – im Gegensatz zu den anderen – wenigstens zu wissen, wie dumm man ist. Oder über die Selfcare-Jünger zu polemisieren, was der Verdrängung des eigenen Leidens genauso wie des religiösen Moments in der Frage nach dem Warum der Kritik gleicht. Oder sich abzugrenzen von der bewusstlosen Praxis – sei es die der Wissenschaft oder der Antifa –, was bedeutet, die Identität als Kritiker zu wahren.
Genauso ermüdend wie die Leistungsideologie oder die Erzählung vom guten Leben ist die Figur des Antideutschen, der erklärt, dass es egal sei, was man tut, es gäbe schließlich kein richtiges Leben im Falschen, der sich ausruht in seinem „kritischen Bescheid Wissen“, der zwar klaut und Nazis die Beine bricht, aber sich nicht um sich kümmert, aus Angst, sich dadurch für den Arbeitsmarkt zuzurichten. Wie zugerichtet und abgestumpft er damit ist, wie sehr er seinen Leib vergisst, kann er unter seiner Borniertheit auch vor sich selbst verstecken – so meine Spekulation. Ginge es der Kritik also wirklich um den verletzlichen Leib, das sich ängstigende Individuum, so würde sie zunächst versuchen, zu verstehen: Anerkennen, dass man eben morgens aufstehen muss, um das eigene Leiden kritisieren zu können.
Insofern wäre auch das Erkenntnissubjekt konkret zu negieren, „das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen“ – wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt.
Nun habe ich doch einen Gegenstand hinzugenommen, an dem ich mich abarbeiten konnte: die Figur des Kritikers und des Antideutschen, in denen der männliche Mensch als Erkenntnissubjekt wirkt. Geplant war das nicht, aber es folgt aus der Selbstkritik, die uns alle angeht. Wir haben uns auf den falschen Inhalt – die abstrakte Frage – eingelassen, der falschen Form untergeordnet – dem collagenhaften Zusammenwerfen des Zeitmangels wegen –, und wurden beim Vortragen zu mit uns selbst identischen Erkenntnissubjekten. Auch wenn wir uns dabei selbst immer „mitmeinen,“ wie man in anderen Kontexten zu sagen pflegt. Statt nur den Staat und das Kapital abschaffen zu wollen, muss es in dieser Perspektive genauso darum gehen, selbst andere zu werden. Ohne die Selbstkritik keine Selbstveränderung – auch wenn das Gegenteil keineswegs die Konsequenz ist – und ohne Selbstveränderung keine Möglichkeit aufzuhören, nein zu sagen, kein neo-idealistisches Freiheitsmoment, welches im ersten Beitrag an den verzweifelten Versuch des Existentialismus, das Individuum zu retten, erinnert. Insofern sind wir wohl gleiche eines Zwangszusammenhangs. Als Einzelne, die in der gemeinsamen Auseinandersetzung der Vereinzelung zu entkommen suchen, teilen wir – so meine ich – als Ausgangspunkt die Hoffnung, dass das alltägliche Leiden im gesellschaftlichen Zwangszusammenhang aufhöre. Das – hier kann ich meinen Vorrednern nur zustimmen – ist die Antwort auf die Frage nach dem Warum der kritischen Theorie.